In der Novelle “Die Ungesichter”, erzählt Fridolin Schley die leidvolle Geschichte des fünfzehnjährigen somalischen Mädchens Amal, das aus ihrem von Tod und Terror geprägten Dorf fliehen muss und nach monatelanger Reise über die Ukraine, Slowakei und Wien letztendlich in München ankommt. Das Werk beruht auf einer wahren Geschichte, da die Novelle auf den Gesprächen des Autors mit einer Somalierin über ihre Flucht basiert.
Fridolin Schley eröffnete die Lesung in unserer Mediothek mit einem Auszug aus dem Beginn der Novelle, in dem primär das Leben und die Zustände in Amals Heimatdorf beschrieben werden. Das Augenmerk liegt dabei auf der Besetzung durch die islamistische Miliz und darauf, was sich durch diese für die Bewohner des Dorfes ändert.
So wird schon sehr bald ihr Vater von den Besatzern ermordet, da er sich weigert, mit seinem Englischunterricht aufzuhören und auf religiösen Unterricht umzusteigen.
Anschließend wird Amal zusammen mit ihrem Cousin gefangen genommen und in das Lager der Besatzer gebracht. Dort wird ebenfalls ihr Cousin getötet, sie hingegen wird vergewaltigt, zwangsverheiratet, zur Arbeit gezwungen und misshandelt, bis sie sich dazu entschließt, aus dem Lager auszubrechen, was den Grundstein für ihre waghalsige Flucht legt.
Nach den nervenaufreibenden ersten Seiten fragten sich viele Schüler, ob die Geschichte wirklich zu 100 Prozent der Erzählung des somalischen Mädchens entspreche. Der Autor antwortete, dass er versucht habe, alles Relevante aus ihren Erzählungen mit einfließen zu lassen, das Buch allerdings aus vier bis fünf langen Gesprächen entstanden sei und er sich daher die künstlerische Freiheit genommen habe, Dinge gelegentlich auszulassen. Er habe sich beim Schreiben gefragt, “wie viel darf ich mir aneignen, um gleichzeitig noch den Respekt vor ihrer Geschichte zu wahren?”, so Schley.
Auf die Frage, ob die Gespräche seine Sicht auf die Flüchtlinge geändert hätten, antwortete der Autor, durch sie habe ein Umdenken bei ihm stattgefunden. Nach dem Gespräch mit einer tatsächlich Betroffenen sei das unbeschreibliche Leid von Flüchtenden erst so richtig greifbar geworden.
Die zweite Textpassage, aus der Schley las, nimmt Bezug auf einen späteren Zeitpunkt in der Novelle. Bei dem Versuch, die europäische Grenze zu überqueren, werden sie entdeckt und in einem ukrainischen Auffanggefängnis untergebracht. Monatelang bleiben sie dort; Monate in denen Amal das Gefühl für Zeit verliert und in Lethargie zu versinken droht. Nur durch die Hilfe Cariims, eines Jungen, der gemeinsam mit ihr flieht, schafft sie es, die Zeit im Gefängnis durchzustehen. Als sie schließlich freikommen, wagen sie eine erneute Flucht über die Grenze, die diesmal glückt.
Spätestens jetzt könnte man sich die Frage stellen, wer denn jetzt die Ungesichter sind, die der Novelle den Titel geben. Schleys Antwort ist simpel: Die Deutung sei jedem selbst überlassen: Ob die Ungesichter nun die Unmenschen seien, welche Amal den Fluchtweg zur regelrechten Qual machen, oder ob es die Flüchtlinge selbst, die wir schließlich auch immer nur als Flüchtlinge und nicht als einzelne Individuen sehen, sind, müsse ein jeder für sich selbst entscheiden. Er habe einen Titel wählen wollen, den man “versteht ohne ihn zu verstehen”, so der Autor; einen Titel, der, obwohl es sich nicht um ein richtiges Wort handelt, greifbar ist.
Doch was soll uns dieses Werk nun letztendlich mitgeben? Wie Schley bereits erwähnt hat, sehen wir Menschen die Flüchtlinge immer nur als Masse an Menschen, als “Ungesichter”. Wir reden über sie, ohne ihre wahren Sorgen und Leiden nachvollziehen zu können, was unter anderem auch der Grund dafür ist, warum wir nichts unternehmen, um ihnen zu helfen.
Schley gibt besagten “Ungesichtern” Gesichter in Form von Amal und Cariim, deren Geschichte uns wenigstens teilweise nachvollziehen lässt, wie eine solche Flucht aussehen kann. So macht die Novelle “Die Ungesichter” uns nicht nur den Begriff “Flüchtling” greifbar, nein, sie regt auch zum Nachdenken an und appelliert an unsere Menschlichkeit.
Maximilian Thesing und Emma Strobach, 10d