Exkursionsbericht der Grundkurse Philosophie und des Leistungskurses Philosophie der Jahrgangsstufe 11
Geschlechtergerechtigkeit oder Patriarchat? Wie muslimische Theologinnen den Koran lesen**
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein zentrales Anliegen unserer modernen Gesellschaft. Gleichzeitig spielen religiöse Texte für Gläubige eine entscheidende Rolle. So auch der Koran, das heilige Buch des Islam. Dabei haben wir uns die Frage gestellt: Wie können die Lehren des Korans im Einklang mit modernen Vorstellungen von Gleichstellung interpretiert werden? Von Neugier und Interesse getrieben, führte uns unser Weg zur katholischen Akademie, wo wir uns innerhalb von drei Stunden auf abwechslungsreiche Art und Weise mit dem Koranvers Q 4:32 auseinandersetzten. Dabei waren wir nicht die einzigen Interessierten, denn Religions- und Philosophiekurse anderer Schulen waren ebenfalls anwesend.
Die Exkursion begann mit einer Präsentation von Prof. Dr. Mira Sievers. Sie ist Professorin für islamische Theologie an der Universität Hamburg und studierte islamische Studien, Islamwissenschaften und Linguistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Um uns besser in die Thematik einführen zu können, vermittelte sie grundlegende Informationen zum Koran. Interessant ist, dass die Schrift innerhalb von 23 Jahren entstand und dies in unterschiedlichen städtischen Kontexten und Dialogsituationen mit den Ersthörern.
Im weiteren Verlauf des Vortrags wurde der Fokus auf Q 4:32 und die damit verbundenen verschiedenen historischen Perspektiven gelegt. Der Vers lautet: "Wünscht euch nicht das, wodurch Gott die einen von euch vor den anderen bevorzugt hat. Die Männer erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben, und die Frauen erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben. Also bittet Gott um seine Huld. Gewiss, Gott ist über alle Dinge wissend." In diesem Vers kann das Wort "Anteil" auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Einmal als materieller Anteil, also Geld oder Vermögen, und als immaterieller Anteil, also als eine Art Belohnung im Jenseits. Der Gelehrte Ar-Rāzī (gest. 1210) interpretierte den Vers beispielsweise so, dass die Belohnung im Jenseits nach geschlechtsspezifischem Handeln erfolgt, nämlich Unterhaltsverpflichtung für Männer und Hausarbeit für Frauen. Al-Qurtubī (gest. 1273) dagegen erklärte, dass die unterschiedliche Erbverteilung durch Gottes Beachtung der menschlichen Interessen bestimmt wird. Muhammad ´Abduh (gest. 1905) berief sich darauf, dass der Vers geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gebietet, die durch die Natur und das Wesen der Männlichkeit und Weiblichkeit festgelegt ist.
Wir haben also gelernt, dass die Auslegung von Q 4:32 stark vom Kontext abhängig ist. Auch lässt sich der Vers im Entstehungskontext auf unterschiedliche Weisen interpretieren. Denn als Reaktion auf die vorislamische Praxis betont der Vers das Recht von Frauen auf Erbe, während er als Reaktion auf die Forderung nach Gleichbehandlung die Ungleichbehandlung verfestigt. Bereits diese zwei Punkte zeigen, dass die Hermeneutik eine entscheidende Rolle bei der Interpretation des Verses spielt. Die vielen Eindrücke und Informationen aus der Präsentation mussten erst einmal verdaut werden. Nach anfänglichem Zögern kam dann auch die Fragerunde in Schwung, und viele nutzten die Gelegenheit, um ihre Gedanken zu teilen.
Danach gab es eine kurze Verschnaufpause. In dieser langte der Großteil ordentlich an der Theke zu und deckte sich mit Wasser, Tee und Kaffee ein. Weiter ging es in Gruppen von 5-11 Schüler*innen, die von einer Moderatorin bei der Klärung der Diskussionsfrage unterstützt wurden: "Sind Sie der Auffassung, dass solche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in unserer heutigen Gesellschaft Gesetze begründen sollten?" Die Fragen, die während der Gruppendiskussion entstanden, wurden notiert und anschließend beim endgültigen Zusammentreffen geklärt.
Der Tag in der katholischen Akademie war nicht nur eine lohnende Erfahrung, sondern auch eine Anregung für Diskussionen in den kommenden Philosophiestunden.
GK Philosophie & Hr. Kurz