„Geht in alle Welt!“ – Und erstmal nach Brandenburg Auf dem Jakobsweg mit einer Schülergruppe

„Beim Pilgern will man durch das Erlebnis der Natur sich selbst begegnen. Gläubige Menschen wollen dabei auch Gott ein bisschen näherkommen. Man hofft auch, sich seinen Mitmenschen wieder mehr verbunden zu fühlen.“

Die Auskunft wird im Religionsunterricht mit Kopfnicken quittiert. Der Lehrer überlegt, ob er hinter dem steht, was er da gerade vollmundig verkündet hat. Doch ja, probieren kann man es ja mal, der katholische Kollege hat schließlich gute Erfahrungen damit gemacht und will sie brüderlich mit uns teilen.

So geht die Wanderung mit 15 Schülerinnen und Schülern beider Konfessionen der Klassenstufe 8 aus dem Europäischen Gymnasium Bertha-von-Suttner in Reinickendorf hinaus in die märkische Heide. Oder führt sie vielmehr in Richtung Santiago de Compostela? Immerhin, der berühmte spanische Pilgerort liegt vom Ziel Brandenburg an der Havel ein Stück näher als vom Start in Berlin: Alles muss klein beginnen!

Es ist eine Reise in den Mai. Der trägt seinen Teil dazu bei, das Versprechen des Pilgerns zu erfüllen, Verlorenes und Verschüttetes wieder zu finden. Dabei geht es nicht immer spektakulär zu. Die Schaffnerin der Deutschen Bahn sieht auf den Fahrscheinen, wo wir aussteigen wollen. „Borkheide – was will man denn da?“ – Bald umfangen märkische Kiefern die 15 Berliner Jugendlichen. Ohne den Sound üblicher „Power Banks“ wäre ihnen die Stille erstmal zu viel. Aber spätestens zwischen den Orten Kanin und Emstal befinden wir uns auf dem Jakobsweg, wie eine örtliche Wandertafel den Teilnehmern anzeigt: „Cool!“ Der Tag zieht sich dann doch, die Last auf dem Rücken und das ständige Laufen sind ungewohnt: „Wann sind wir da?“

„Gleich“, will ich in Lehnin sagen, und frage ein paar Passanten nach der Entfernung zum Kloster, unserer Pilgerherberge. Die Entgegenkommenden verstehen mich nicht, sie kommen aus Rumänien, sagen sie.

Schon leuchtet das Kloster unter Bäumen hervor. Die Anstrengung fällt allmählich ab. Lange nicht habe ich vermeintlich einfache Dinge so zu schätzen gelernt: Eine warme Dusche, den gedeckten Abendbrottisch und das Federbett. Nicht zu vergessen: Die Frage nach einem Kirchenschlüssel für den Abendabschluss wird wie jede Bitte zuvor freundlich beschieden. Und so stehen wir in der Abenddämmerung vor dem Marienaltar in der Klosterkirche rund um den versteinerten Baumstumpf. Unter den möglichen Erklärungen hält ein Schüler es für plausibel, dass es sich um ein abgeholztes heidnisches Baumheiligtum handelt, aus der Zeit der Klostergründung, 12. Jahrhundert. Wir erinnern uns, dass die „christliche“ Kolonisierung unseres Landstriches nicht konfliktfrei verlief. Mir fallen die rumänischen Migranten auf der Dorfstraße wieder ein. Als Nachfahren einer doch zum Teil recht unchristlichen Besiedlung im einst von Slawen besiedeltem Land sollten wir auf die Migrationsströme unserer Zeit einen barmherzigeren Blick werfen.

Auch der Morgen in Lehnin beginnt in der Klosterkirche. „Morning has broken“ tönt es hinauf ins gotische Gewölbe. Bernhard Weber, mein katholischer Kollege, liest die letzten Verse des Matthäus-Evangeliums. Er bleibt in seiner kurzen Auslegung bei den ersten Worten stehen: „Gehet hin in alle Welt!“ „Das andere kommt später in eurem Leben“ ruft er den Jugendlichen zu. „Heute ist erstmal dieses eine für euch da: Geht hinaus! Schaut euch die Welt an! Lernt sie kennen!“ Ich bin verblüfft. So habe ich den Satz noch nie für sich gelesen. Doch als an diesem Mai-Tag die Wanderung entlang lieblicher Wasserläufe führt, als der blaue Himmel sich über das satte Grün wölbt, die Kühe unsere Pilgerschar aus nächster Nähe bestaunen und die Schülerinnen und Schüler immer zugewandter und freundlicher werden, höre ich es wieder: Trotz viel Gepäck auf dem Rücken, trotz schweren Schrittes, dieses „Gehet hin!“ -  Die Freude über die Türme von Brandenburg am Horizont lagert sich darüber. „Geht hin!“ Warum sagt er das bloß? „Geht hin!“ Denn: Es gibt einen Weg.           A. Winterhager.